Mehr und mehr Autoren, die von traumatischen Erfahrungen im Gulag oder gar in beiden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts frühzeitig Zeugnis gaben, werden in den letzten Jahren wiederentdeckt, neu editiert und kommentiert (W. Grossman, W. Schalamow, J. Margolin, G. Herling, A. Rohr u.a.) Oftmals handelt es sich dabei um Publikationen aus der frühen Nachkriegszeit, die dann zwischen den ideologischen Fronten des Kalten Krieges zerrieben und vergessen wurden. Ihre Autoren und Verleger hatten am falschen Ort zur falschen Zeit öffentliche Resonanz gesucht. Für Dissidenten im Osten war die Lage von existenziell brutaler Klarheit: Anpassung an die Doktrin und Privilegien oder willkürliche Repressalien und Exil. Das Problem der „interpretierenden Klasse“ im Westen dagegen war ideologisch, nicht existenziell: im Zwiespalt zwischen Kapitalismuskritik und Antikommunismus herrschte die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite. Insofern sei der Kalte Krieg „weniger zwischen Ost und West als vielmehr innerhalb der beiden Blöcke geführt worden“ (T. Judt). Am Beispiel von J. Semprúns „Doppelgedächtnis“ und H. Bölls Zwiespältigkeit soll diese Art Latenz dissidenter Texte im Kalten Krieg erläutert werden
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