Dieser Beitrag versucht den Nachweis einer wichtigen, jedoch unerkannten Beziehung zwischen Goethes Rückkehr zu einer umherschweifenden Erzählweise in Wilhelm Meisters Wanderjahren und der Tradition der Chorographie. Vor dem Hintergrund der Trennung von Weltzeit und Lebenszeit und dem problematischen Versuch ihrer narrativen Überwindung in Wilhelm Meisters Lehrjahre rekonstruiere ich Umrisse der antiken und frühneuzeitlichen Kosmographie und vornehmlich ihres narrativen Teils, der Chorographie. Ursprünglich eine Art narrativer Wunderkammer, in der ein wandernder Erzähler die Wunder ferner Länder beobachtet und erzählt, fokussierte die Chorographie des Kolonialismus auf diejenigen Aspekte einer Landschaft oder eines Volkes, die eine körperlose geographische Beschreibung nicht vermitteln kann. Goethe kannte chorographische Texte und praktizierte ihre Schreibweise; in den Wanderjahren gibt es deutliche Hinweise und Anspielungen auf chorographische Verfahren. Sie verbinden sich zu einer Prosa, die dem Subjektivismus der eigenen erzählerischen Vergangenheit, der Homogenisierung von Alexander von Humboldts Kosmos und dem narrativen Sog des industriellen Fortsetzungsromans wiederstehen sollte.
This essay argues that an unacknowledged, yet powerful relation exists between Goethe’s return to an ambulatory and digressive prose in Wilhelm Meisters Wanderjahre and the tradition of chorography. Against the split Hans Blumenberg identified between world-time and life-time and its problematic narrative negotiation in Wilhelm Meisters Lehrjahre, I reconstruct the tradition of ancient and early modern cosmography and especially its narrative part, chorography. Initially a kind of narrative Wunderkammer in which an ambulatory narrator explores and recounts the wonders of distant lands, in the age of colonization chorography focused on transmitting those characteristics of landscapes and peoples that disembodied geographical description could not convey. Goethe was familiar with chorographic texts and modes of writing, and several specific chorographic procedures and allusions appear in Wanderjahre. They combine to resist the narrative pull both of his own earlier subjectivism, of Alexander von Humboldt’s Kosmos, and of the coming industrial novel.
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